FRIELINGHAUS ENSEMBLE
PROGRAMM:
Luigi Boccherini (1743–1805)
Streichquintett E-Dur op. 11/5 «Ladykillers»
Alexander Glasunow (1865–1936)
Streichquintett A-Dur op. 39
Franz Schubert (1797–1828)
Streichquintett C-Dur D 956
Nach Konzerten in Norddeutschland und der Elbphilharmonie findet das Ensemble erneut den Weg über Stuttgart und Freiburg in die Schweiz nach Bern und ins Engadin. Dem Publikum ist das Ensemble um den ECHO Klassik Preisträger und Hamburger Geiger Gustav Frielinghaus nach vielen erfolgreichen Konzerten bestens bekannt.
Über die jüngst veröffentlichte Sextett-CD «Souvenir de Florence» urteilte die Süddeutsche Zeitung mit «Leidenschaftlich und zart» und Radio Bremen sprach von «unheimlicher Power und ganz viel Lust am Musikmachen».
Das Frielinghaus Ensemble vereint befreundete und international ausgezeichnete Kammermusiker, Solisten und Orchestermusiker, die in unterschiedlichen Besetzungen aus Deutschland und dem europäischen Ausland zusammen kommen. Fester Bestandteil ist eine jährlich Anfang Januar stattfindende Norddeutschland-Tour neben weiteren Konzerten in ganz Deutschland und der Schweiz.
2018 gab das Ensemble mit Klavierquartetten von Beethoven und Brahms sein Elbphilharmonie Debüt und ist seitdem regelmäßig in der Elbphilharmonie zu hören. Zahlreiche Aufnahmen, wie die CDs »Springtime« und »Mendelssohn & Bruckner« dokumentieren das künstlerische Schaffen des Ensembles. Über die jüngst veröffentlichte CD »Souvenir de Florence« urteilte die Süddeutsche Zeitung mit »Leidenschaftlich und zart« und Radio Bremen sprach von »unheimlicher Power und ganz viel Lust am Musikmachen«.
Gustav Frielinghaus, geboren 1978 in Hamburg, studierte Violine bei Winfried Rüssmann (Hamburg), Igor Ozim (Bern) und Thomas Brandis (Lübeck) sowie Kammermusik bei Walter Levin (Basel) und Günter Pichler (Köln/Madrid). Als Primarius des Amaryllis Quartetts gewann er zahlreiche Wettbewerbe und Preise. Das Quartett hatte seinen internationalen Durchbruch mit dem Gewinn des Finalisten-Preises beim Premio Paolo Borciani 2011 in Reggio Emilia und vier Wochen später mit dem 1. Preis und dem Grand Prize beim 6th Melbourne International Chamber Music Competition. Das Streichquartett spielt weltweit auf Festivals und in renommierten Konzerthäusern (Alte Oper Frankfurt, Tonhalle Zürich, Muziekgebow Amsterdam, Wiener Musikverein, Wiener Konzerthaus, Wigmore Hall London, Teatro della Pergola Firenze, Gran Teatro La Fenice di Venezia, Dai-ichi Seimei Hall Tokio). Unter dem Motto »amaryllis 3x3« gestaltet es einen eigenen Zyklus in der Laeiszhalle Hamburg, in Lübeck und im Sendesaal Bremen. 2012 erhielt es für seine CD »White« mit Streichquartetten von Haydn und Webern einen ECHO Klassik. Im Winter 2024 feierte das Quartett mit einer Uraufführung von Heinz Holliger und der neuen CD Reihe »Face2Face« bei Berlin Classics sein 20-jähriges Jubiläum.
Für den musikalischen Nachwuchs setzt sich Gustav Frielinghaus in Meisterkursen, Schülerkonzerten und als Juror ein. Mit dem Württembergischen Kammerorchester Heilbronn ist Gustav Frielinghaus als Gastkonzertmeister seit 2016 künstlerisch verbunden. Von 2015 bis 2018 leitete er für vier Saisons organisatorisch und künstlerisch die Hamburger Camerata, etablierte in dieser Zeit zahlreiche neue Konzertformate und debütierte im Dezember 2018 im großen Saal der Elbphilharmonie. Nach der künstlerischen Leitung der Putbus Festspiele auf Rügen von 2019-2023, gründete er 2023 das »Festival Uhlandshöhe« in Stuttgart.
Salvatore Di Lorenzo, geboren 2003 in Palermo, ist derzeit Student in der Klasse von Kolja Blacher an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin und spielte bereits in bedeutenden Konzertsälen wie der Berliner Philharmonie, dem Concertgebouw Amsterdam und dem King's Place London. Er begann seine musikalische Ausbildung im Alter von sieben Jahren und kam als 13-jähriger ans Scarlatti-Konservatorium seiner Heimatstadt. Zwischen 2017 und 2021 studierte er an der renommierten Yehudi Menuhin School in London.
Salvatore Di Lorenzo nahm an Meisterkursen der Carl Flesch Akademie Baden-Baden, von »Musethica« und der »Villars Music Academy« in der Schweiz teil. Mehrmals war er zu Gast beim »Xenia Chamber Music Course« in Turin, wo er inzwischen selbst unterrichtet. Er war 2024 Finalist beim V. Ilona Fehér International Violin Competition in Budapest und Preisträger des International Violin Competition »Rodolfo Lipizer« in Gorizia/Italien.
Zu seinen weiteren Auszeichnungen gehören ein 1. Preis beim »Maria Elisa Di Fatta« Wettbewerb, der Internationale AMIGDALA Musikwettbewerb und der »Kaleidos Premio Musica«, den er im Januar 2025 erhielt.
Neben seiner solistischen Tätigkeit setzt sich Salvatore Di Lorenzo auch intensiv mit Kammermusik und Zeitgenössischer Musik auseinander. In diesem Zusammenhang spielte er mit den Berliner Philharmonikern zusammen und gibt regelmäßig Konzerte im Sonar Quartett und im Boulez Ensemble Berlin.
Mit Stipendien des Deutschlandstipendiums, des »Music and Dance Scheme« sowie privater Förderer, setzt Salvatore Di Lorenzo sein Studium und seine internationale Karriere fort. Er spielt eine Violine von Christoph Götting, die ihm von der Hochschule für Musik Hanns Eisler zur Verfügung gestellt wurde und wird in diesem Jahr mit den »Strings Unlimited Bremen« sein selbst komponiertes 1. Violinkonzert zur Uraufführung bringen.
Timon Knötzele, geboren 1998 in Wuppertal und in Göttingen aufgewachsen, begann als Fünfjähriger mit dem Geigenspiel bei Mariana Suciu. Erste Orchestererfahrungen sammelte er als Mitglied des Göttinger Jugend-Sinfonie-Orchesters und verfolgte diese Leidenschaft ab 2012 im Niedersächsischen Jugendsinfonieorchester weiter. Zum Schuljahr 2014/15 wechselte Timon Knötzele an das Musikgymnasium Schloss Belvedere in Weimar und stieg gleichzeitig auf Viola um. Er erhielt dort Unterricht bei Florian Richter und wechselte 2018 in die Klasse von Erich W. Krüger und Ditte Leser. Im selben Jahr schloss er sein Abitur ab und begann anschließend sein Bachelorstudium an der Musikhochschule Franz Liszt Weimar, wo er inzwischen im Master of Music studiert.
Timon Knötzele nahm als Solist mehrfach an den »Musiktagen Bad Sulza« und dem Wettbewerb »Jugend musiziert« teil und konzertierte mit dem JSO Göttingen und dem Orchester des Musikgymnasiums Schloss Belvedere. Darüber hinaus konnte er seine Leidenschaft für die Kammermusik verfolgen und reiste mit einer Kammermusik-Delegation der Musikhochschule Weimar zur »Dubai Expo 2020« und für ein Austauschprojekt mit der Manhattan School of Music nach New York.
Neben weiteren Mitgliedschaften in Orchestern und Ensembles wie der Deutschen Streicherphilharmonie und dem Ensemble Momentum, ist er seit 2022 Mitglied des Gustav Mahler Jugendorchesters und dort auch als Solo-Bratschist tätig. Auf zahlreichen Orchestertourneen erhielt er zudem wichtige künstlerische Impulse von renommierten Dirigenten und Solisten.
Leander Kippenberg, geboren 1991 in Frankfurt am Main, trat als Solist und Kammermusiker bei europäischen Festivals und Konzertreihen u.a. in der Tonhalle Zürich, im Bremer Sendesaal, in der Glocke Bremen, in St. John Smith Square London und der Barbican Hall auf.
Bereits als 15-jähriger begann er sein Studium in der Meisterklasse von Michael Sanderling an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt. Im Alter von 20 Jahren wechselte er dann mit einem Vollstipendium in die Klasse von Louise Hopkins an die Guildhall School of Music and Drama nach London. Nachdem er sein Master Studium dort mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, erspielte er sich im Frühjahr 2017 eine Stelle als Akademist der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen und durchlief dort über einen Zeitraum von zwei Jahren, neben der Teilnahme an zahlreichen Orchesterprojekten und weltweiten Konzert-Tourneen, ein umfassendes Fortbildungs-Curriculum mit musikalischen und außermusikalischen Inhalten.
Leander Kippenberg arbeitete durch seine regelmäßige Teilnahme an Musikfestivals wie dem International Musicians Seminar in Prussia Cove/Cornwall, dem Youth Classics International Music Festival in der Schweiz und dem Virtuoso et Belcanto Festival in Lucca mit Musikerpersönlichkeiten wie Thomas Adés, Adrian Brendel, Valentin Erben, Ralf und Marc Gothóni, Erich Höbarth und Gary Hoffmann zusammen, die eine wichtige Inspirationsquelle darstellten.
Neben seiner Tätigkeit als Cellist ist Leander Kippenberg als Gründer und Leiter des Streichorchesters »Strings Unlimited Bremen« als Dirigent tätig und setzt sich für die kulturelle Vielfalt in Bremen ein.
Jakob Schall, geboren 1989, erhielt seinen ersten Cellounterricht im Alter von sechs Jahren an der Tübinger Musikschule bei Stefan Zarnescu und später bei Zoltán Paulich (Solocellist der Stuttgarter Staatsoper). Früh begeisterte er sich besonders für die Kammermusik und besuchte zahlreiche Meisterkurse u.a. bei Gerhard Schulz (Alban Berg Quartett), Heime Müller (Artemis Quarett) und dem Vogler Quartett.
Von 2009 bis 2014 studierte Jakob Schall an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg bei Bernhard Gmelin und absolvierte dort seinen Bachelor. Im Anschluss daran wurde er in die Akademie des NDR Elbphilharmonie Orchesters aufgenommen und hatte so die Möglichkeit, mit namhaften Künstlern wie Lisa Batiashvili, Thomas Hengelbrock, Patricia Kopatchinskaja und Krzysztof Urbański zusammen zu arbeiten. Von 2016 an studierte er an der Musikhochschule Freiburg bei Jean-Guihen Queyras und schloss dort sein Studium mit dem Master ab. Wichtige Impulse bekam er auch von Sylvie Altenburger, Tristan Cornut, Olivier Marron und Jörg Scheele. Er war Stipendiat der Rudolf Eberle Stiftung, der Oscar und Vera Ritter-Stiftung, des Yehudi Menuhin Live Music Now Hamburg e.V. und der Christel-Guthörle-Stiftung.
Als freischaffender Musiker spielt Jakob Schall immer wieder in verschiedenen
Klangkörpern wie dem Frielinghaus Ensemble, dem Ensemble Momentum oder dem
orchestra arte frizzante Konzerte in Deutschland und der Schweiz. Eine besondere und langjährige Zusammenarbeit verbindet ihn mit seiner Schwester Eva Schall (Violine). Neben Festival Auftritten beim PODIUM Festival Esslingen und beim Beethovenfest Bonn veranstaltet er mit dem »Ensemble auf der Suche« seit 2020 eigene Konzerte und gründete das Festival Immenklang in Immenhausen bei Tübingen.Dabei werden Künstler aus unterschiedlichen Sparten zusammen gebracht, um gemeinsam an innovativen Formaten zu arbeiten.
Metabolismus des Klangs
Benjamin Sprick
Die Welt des Klangs erscheint stets als eine Welt der Mischungen. Stimmungen, Farben und Materialitäten verbinden sich hier, um – je nach Ensemble, Instrumentarium oder musikalischer Dynamik – in eine Verkettung unendlicher Variationen einzutreten. Auf diese Weise vollzieht sich in der Geschichte der Kammermusik und ihrer Werke ein weitverzweigter und zu immer neuen Mischungen gelangender musikalischer ›Metabolismus‹ – ein klanglicher ›Stoffwechsel‹, der sich auf ganz unterschiedlichen Ebenen ausmachen lässt und zu immer neuen Ergebnissen und Transformationen führt.
Klangliche Tarnung
Das E-Dur-Quintett op. 11/5 von Luigi Boccherini (1743-1805), entstanden 1776, verdankt seine ungebrochene Popularität einem berühmten Zitat aus der Filmgeschichte. Im Film Ladykillers von Alexander Mackendrick – der 1955 Alec Guinness und Peter Sellers zu Weltstars machen sollte – fungiert das Menuett des Quintetts als akustische ›Tarnung‹ von fünf Gangstern, die sich bei einer harmlosen alten Lady in London einquartiert haben, um einen Überfall auf einen Geldtransport an King’s Cross Station zu planen. Um kein Aufsehen zu erregen, geben sich die fünf Ganoven als Musiker eines Streichquintetts aus. Tagaus, tagein erklingt aus ihrem Zimmer dieselbe Melodie, die allerdings nicht live intoniert, sondern von einem Grammophon wiedergegeben wird. Der geplante Coup gelingt am Ende des Films zwar, doch die Täuschung der Pseudo-Musikanten fliegt auf. Als der Cellist an einem Türrahmen hängen bleibt flattern plötzlich Geldscheine und keine Noten über die Straße. Noch heute werden seitdem Cellist:innen in den U-Bahnen dieser Welt auf den Inhalt ihrer Kästen hin angesprochen…
Solche Verwirrspiele hätten den als sehr humorvoll geltenden Boccherini mit Sicherheit zum Lachen gebracht. Als virtuoser Cellist wählt er für sein Werk die Quintettbesetzung mit zwei Celli und nicht die »Wiener Besetzung« mit zwei Bratschen, die man beispielsweise bei Mozart finden kann. Durch die Verdopplung der tenoralen Cello-Klanglichkeit bekommt das Ensemble eine charakteristische ›Festigkeit‹ verliehen, die Brücken in die Welt eines Kammerorchesters schlägt.
Das nicht nur von Gangstern geschätzte Werk beginnt mit einem lieblichen Amoroso, das elegant gehaltene Triolen zwischen den Streicherpaaren hin- und herwandern lässt. Im Mittelteil sorgt eine Art von Vogelstimmen-Dialog für etliche klangliche Überraschungen. Dabei wird das konventioneller Weise zu Beginn platzierte Allegro nachgeholt und zwar »con spirito«: mit etlichem italienischem Geist und Feuer versehen. Alle Instrumente bewegen sich hier an den Grenzen ihrer technischen Möglichkeiten. Besonders die beiden Celli werden von Boccherini in gefährlich hohe Lagen geführt. Die Wirkung des Menuetts zeigt sich dann durchgehend als ›Ohrwurm‹, der von für Boccherini typisch-raffinierten Klangmischungen aus gedämpften und gezupften Streichersaiten getragen wird. Ein kapriziöses und filigran verzweigtes Rondo beschließt das Werk schließlich in einer ebenso filigranen, wie gefälligen Art und Weise.
Insgesamt zeigt sich Boccherinis Musik auch im Quintett als ein vielschichtiges Laboratorium des Klangs, in dem sich etliche, vor allem in Richtung Spanien weisende folkloristische Anklänge ausmachen lassen. Zugleich bleibt Boccherini, dessen Werke in Paris verlegt wurden, jenem gesamteuropäischen Stil treu, der als »Wiener Klassik« bezeichnet wird, um dabei eine gewisse nordeuropäische Strenge dabei zugleich kreativ zu unterwandern.
Zeitlose Eleganz
»Alles bei Glasunow ist so elegant gemacht, alles klingt so hell und saftig, alle Farben sind so satt und kräftig.« Mit diesen Worten verteidigte der russische Musikforscher V. Karatygin Alexander Glasunow (1865-1936) gegen seine Kritiker, die ihm Mangel an Persönlichkeit und schöpferischer Eigenart vorwarfen, eine Einschätzung der Katygin energisch widerspricht. Er sieht »unter der Hülle erstaunlicher Schönheiten und reiner Architektonik eine Schicht kontrapunktischer Gebilde, ein kompaktes Massiv an Technik«.
Bereits im Streichquintett A-Dur, op. 39 – einem Frühwerk des 27jährigen Komponisten – lässt sich diese Kombination aus Zugänglichkeit und kompositorischer Rafinesse ausmachen. Glasunow war im Entstehungsjahr des Quintetts 1892 bereits seit drei Jahren Professor für Instrumentation am St. Petersburger Konservatorium. Auf diesem Lehrstuhl sollte er später sogar noch den jungen Schostakowitsch unterrichten, der ihn in seinen Memoiren als kantig-strengen Lehrer charakterisiert. 1892 stand Glasunow noch am Anfang dieser pädagogischen Karriere, die ihn zum wichtigsten Kompositionslehrer der ersten Generation der russischen Moderne machen sollte.
Wie auch Boccherini wählte Glasunow für die Quintettbesetzung die Variante mit zwei Celli statt mit zwei Bratschen. Tschaikowskis Streichsextett Souvenir de Florence hat ihn dazu offenbar inspiriert, das nur zwei Jahre zuvor entstand und in dem die beiden Celli die wesentliche Stützen des Satzes bilden. Glasunow ließ sich zudem von Tschaikowskis nobler Klassizität dazu inspirieren, die allzu national-russischen Ambitionen seiner ersten Werke zu überwinden. Er versöhnt in seinem Quintett den bodenständig-nationalen Stil seines Lehrers Rimsky-Korsakoff mit der weltläufigen Eleganz Tschaikowskis.
Von den vier Sätzen des Quintetts weist der Kopfsatz (Allegro) das höchste Maß an Komplexität auf. In einer sehr freien Variante der klassischen Sonatenform werden hier unablässig Motive aus dem elegischen Hauptthema transformiert, einer über zwölf Takte gedehnten Melodie der Bratsche, deren lyrisch-singender Duktus zunächst den Satz beherrscht, dessen Stimmung sich jedoch im Lauf der Entwicklung im Rahmen dramatischerer Episoden ändert. Das folgende Scherzo variiert im durchgängigen pizzicato ein volkstümlich-russisches Tanzthema, in dem sich Triolen und Duolen beständig abwechseln. Im Trio wird das Tempo auf ein Andante sostenuto gedrosselt und der ausgelassene Tanzcharakter durch eine melancholische g-Moll-Melodie ersetzt. Deren Idiomatik ruft das Hauptthema des ersten Satzes wieder ins Gedächtnis zurück. Im Andante macht sich der große Einfluss Tschaikowskis erneut bemerkbar. Die wehmütige Melodie des zweiten Cellos erinnert an dessen 5. Symphonie, da sie in typischer Manier bis zu melodramatischem Konflikt gesteigert wird. Die Spannung löst sich im quirlig-volkstümlichen Rondofinale, in dem Glasunow eine Fülle russischer Volksmelodien zitiert und miteinander vermischt.
Öffnung aufs Orchestrale
Die Romantik steht neben ihrer Nähe zur Melancholie und zum Traumhaften immer auch für einen gewissen Größenwahn, der vom Vorhaben geprägt wird, vorgefundene ästhetische Formate in fantastischer Weise zu sprengen. In Schuberts spätem und insgesamt genialen Streichquintett C-Dur D 956 zeigt sich dieser Wunsch nach Überschreitung vorgefundener Grenzen im Versuch, ein kammermusikalisches Ensemble aufs Register des Symphonischen hin zu öffnen. Das Streichquintett wird zum Orchester! Ein fantastischer musikalischer Metabolismus kann auf diese Weise Raum greifen. Das Quintett entstand im September 1828, wenige Monate vor Schuberts Tod. Alle Qualitäten seiner reifen Instrumentalmusik versammeln sich hier zu einer weit ausgreifenden Synthese, die die sinfonische Formensprache, eine auf unendlichen Mischungen fußende Klangschönheit und die Arbeit mit dramatischen Kontrasten ineinanderfließen lässt.
Zu Beginn des ersten Satzes scheint das Zeitgefühl wie aufgehoben zu sein. Es wird durch ausgreifende gedehnte melodische Bögen außer Kraft gesetzt. Das zweite Thema der beiden Celli greift diese für Schubert typische, ›unbewusst‹ geformte Zeitlichkeit auf, um sich in ineinander verschlungenen Arabesken zu verkörpern. In einem weiteren Thema öffnet sich im Verlauf ein dramatisch-dunkler Klangraum, der an die »Unvollendete« erinnert und immer wieder von einem wellenartigen Gesang unterbrochen wird. Schuberts Klangkonzept ist von einer beispiellosen Originalität getragen. Es zeigt sich als von einer Übereinanderschichtung von Legato-Melodien, Staccatofiguren, rhythmischen Impulsen und Sforzati geprägt, die in jeder Phase des ausgreifenden Sonatensatzes überraschende Schönheiten ebenso wie schroffe Härten prdofuziert. Hinzu treten die für Schubert typischen ziellos ›vagabundierenden‹ Modulationen, die gelegentlich innerhalb einer einzigen Phrase den gesamten Quintenzirkel durchlaufen.
Derartige Gegensätze werden im Adagio noch vertieft. Seine in E-Dur gehaltenen Rahmenteile prägen eine, in ihrer Statik kaum noch bewegte statische Klangfläche aus, die von seufzenden Motiven überlagert wird. Im f-moll-Mittelteil scheint sich eine tiefe Verzweiflung auszudrücken. Die Stärke der emotionalen Gegensätze führt hier in Extreme von Klang und Dynamik hinein, die alles sprengen, was man in der Kammermusik jener Zeit bis dahin vorgefunden hat. Sie reichen vom zarten Pizzicato über Doppelgriffe und Tremoli bis zu scharf akzentuierten Synkopen, vom dreifachen Piano bis zum Fortissimo-Sforzato.
Im Scherzo wird dieser grundlegende, das Werk prägende Kontrast in einer anderen Form inszeniert. Der Hauptteil ist hier ein furioses und orchestrales Presto mit einer an Hornklänge erinnernden Idiomatik. Das Trio erscheint als Andante sostenuto ohne jeden Tanzcharakter, das wie ein stilles und flehendes Gebet wirkt. Es steht in der Tonart des ›verselbstständigten‹ Neapolitaners (Des-Dur), nur einen Halbton über der Grundtonart gelegent, um zugleich unendlich weit entfernt zu erscheinen.
Eine ähnliche Verschleierung der Grundtonart eröffnet auch das Finale des Werks. Es beginnt in G-Dur als Dominante von c-Moll, moduliert jedoch sofort nach es-Moll und e-Moll und bekräftigt erst nach 45 Takten die eigentliche Grundtonart C-Dur. Was man bis dahin gehört hat, ist lediglich das Thema eines formal breit angelegten Sonatenrondos, der gängige Proportionen zukunftsweisend sprengt. Ihm schließen sich zwei weitere Themen an, außerdem eine Durchführung, Reprise und Coda in schnellerem Tempo. Die Reprise wird vom zweiten Thema eingeleitet, so dass das Hauptthema in einer grandiosen Coda als überraschender Höhepunkt zurückkehren kann, in Form eines ›metabolisch‹ verwandelten Abschluss-Klangs.